Ein kinderfreier Urlaub

„Mama, Mama, Mama“, platzt Katharina ganz aufgeregt durch die Haustür. „Weißt du, wer mich in der Schule für die Sommerferien eingeladen hat?“

„Nee, woher auch?“, antwortet Mechthild und ist gespannt.

„Die Lena! Du, die fliegen für zwei Wochen nach Mallorca, und ich darf mit. Kann ich?“

„Joooooo“, antwortet Mechthild noch ein bisschen zurückhaltend, weil man seine Kinder ja nicht so einfach mir nichts, dir nichts für die Sommerferien verscherbelt. Aber im Prinzip rennt Katharina bei Michael und ihr offene Türen ein. Der nächste Familienurlaub wäre einer mit drei Teenagern, da ahnen die beiden schon, welche Freuden da auf sie zukämen. Dann kommt Mechthild eine noch bessere Idee: Wenn man zeitgleich auch Felix und Franziska in einen eigenen Urlaub schicken könnte, hätten Michael und sie zwei kinderfreie Wochen. Das hatten sie zuletzt, bevor die Kinder da waren, wieso nicht mal wieder. Man müsste nur irgendwie die Kinder unterbringen. Was man dann alles machen könnte! Urlaubsziele für ohne Kinder hat Mechthild nämlich jede Menge im Hinterkopf. Vor allem Fahrradziele, denn in den letzten Jahren sind sie zwar viele klassische Rennradtouren gefahren – vor allem die Berge hoch und runter, in den Pyrenäen, am Mont Ventoux oder auf der Glocknerstraße – aber viele tolle Pässe fehlen den beiden noch, darunter auch so bekannte Tour de France Klassiker wie den Col du Galibier oder Alpe d’Huez. Wenn man wie Mechthild und Michael Fahrrad-bekloppt ist, dann muss man diese Pässe hoch, und zwar am besten während eines kinderfreien Urlaubs, weil die Kinder ihre Fahrrad-Beklopptheit leider nicht so recht teilen wollen.

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So heißt es also, Urlaubsziele für Felix und Franziska in genau den beiden Wochen zu finden, in denen es sich Katharina auf Malle gut gehen lässt. Und solche Ziele finden sich: Für Felix eine Fahrt mit einem Kölner Jugendreisen-Anbieter nach Frankreich und Spanien – erst eine Woche Kanutour auf dem Tarn, dann eine Woche Sportcamp an der Costa Brava – und für Franziska zweieinhalb Wochen Halifax. Da besucht sie nicht nur unsere Freundin und  damalige Nachbarin Nancy sowie Rebecca, Meg und Noor – Schulfreundinnen von früher, mit denen sie, den sozialen Netzwerken sei Dank, noch immer gut in Kontakt steht. Viel besser noch, sie wird mit Nancy zusammen aus Halifax zurückfliegen, die dann drei Wochen lang in Rheinbach Urlaub macht.

„Lass uns das mal so machen“, stimmt Franziska Mechthilds Idee zu. „Schön verstreut in Urlaub fahren und gleichzeitig wieder zurückkommen hat was. Da können wir uns am ersten Tag nach den Urlauben alle um den Küchentisch setzen und durcheinander drauflos erzählen, was wir alles erlebt haben.“

Mechthild beginnt mit der Detailplanung. Als geschicktester, weil zentralster Ausgangspunkt für die auf ihrer Liste noch fehlenden Alpenpässe erweist sich Saint-Jean-de-Maurienne, ein kleines Städtchen mit großem Campingplatz in den Savoyer Alpen, von wo aus man nicht weniger als sechs Pässe der beiden höchsten Tour de France Kategorien mit dem Fahrrad erreichen kann – den Col de Glandon, den Col de la Croix de Fer, den Col de la Madeleine, den Col du Chaussy, den Col du Télégraphe und den Col du Galibier. Mechthilds Augen leuchten. Michael ist anfangs noch ein klein bisschen zögerlich, denn anstrengend wird’s bestimmt, wer weiß, ob er das alles schafft. Aber Berge hoch- und runterfahren mag er auch sehr gerne, ganz besonders auf seinem selbstgebauten Holzrennrad Woodstock, und so ist auch er schnell Feuer und Flamme.

Mitte Juli geht’s los. Innerhalb von 24 Stunden werden Franziska zum Frankfurter Flughafen, Katharina zum Köln-Bonner Flughafen und Felix zum Busbahnhof an der Bonner Museumsmeile, wo ihn seine Reisegruppe Richtung Frankreich und Spanien mitnimmt, gefahren. Von dort aus brechen auch Mechthild und Michael nach Frankreich auf, nach Saint-Jean-de-Maurienne, wo die hohen Pässe auf sie warten.

Der Zeltplatz dort ist sauber, voller Rennradfahrer und tatsächlich ein optimaler Ausgangspunkt zum Pässe fahren. Und jeder dieser Pässe ist anders: Zum Col de Chaussy geht’s über die Lacets de Montvernier, 18 unmittelbar aufeinander folgende enge Serpentinen. Der Col du Mollard hat sogar 47 Serpentinen, die zwar nicht so eng wie die Lacets de Montvernier sind, aber schön im Schatten liegen und kaum von Autos befahren werden. Auch zum Col du Télégraphe geht’s durch den Wald, zum Col de la Madeleine dagegen in der prallen Sonne der Passhöhe entgegen. Zum Col du Glandon und dem Col de la Croix de Fer führt eine stärker befahrene Hauptstraße ohne Serpentinen, dafür mit tollem Ausblick auf den Glacier-de-Saint-Sorlin. Noch ein bisschen schöner ist der Ausblick vom Col de la Madeleine auf den im Norden liegenden Montblanc, und am spektakulärsten der vom Col-du-Galibier auf die Gletscher des Massif des Ecrins. Außerdem ist der Col-du-Galibier, so er denn auf dem Programm der Tour de France steht, der höchste Punkt der Tour. Und ganz wichtig, zusammen mit dem Mont Ventoux in der Provence, dem Col- u Tourmalet in den Pyrenäen und dem Anstieg nach Alpe d’Huez zählt er zu den vier magischen Anstiegen der Tour.

So verschieden die Pässe sind, so ähnlich sind die Tagesabläufe. Zuerst mal schläft es sich im Zelt tief und fest, dafür sorgen die Strapazen des Vortags und der Rotwein am Vorabend von alleine. Dann holt Michael zwei Baguettes – bien cuites, bitte schön kross – an der Rezeption, eins fürs Frühstück und eins für unterwegs, und die Spannung steigt, weil’s bald losgeht. Noch ein paar Sachen packen und die Trinkflaschen auffüllen, dann versichern sich Mechthild und Michael gegenseitig, dass sie es heute besonders ruhig angehen lassen wollen, weil sie nach den letzten Tagen nicht so dolle drauf sind, und es geht los. Und zwar – von wegen besonders ruhig – gerne von Anfang an schnell, was der Anstieg halt so zulässt, denn wenn man einmal im Sattel sitzt, gelten die guten Vorsätze von gerade eben nicht mehr viel. Alpenpässe wollen bekämpft und bezwungen werden, in Ruhe hochfahren ist da nicht. Unterwegs, wenn man nicht mehr kann, was bei der sommerlicher Hitze und ihrer sehr speziellen Taktik des Immer-drauf-losfahrens auch kein Wunder ist, machen Mechthild und Michael ein bis zwei Päuschen, dann kommen sie oben am Pass an. Und da ist es immer schön. Erst fragt man die anderen jecken Rennradfahrer, ob nicht wer das obligatorische Gipfelfoto von Mechthild, Michael und ihren Holzrädchen schießen mag. Dann guckt man sich ein bisschen um, genießt die Aussicht, bildet sich ein, man sei ein Held, und unterhält sich noch ein bisschen mit den andern jecken Helden der Alpenpässe. Und natürlich freut man sich schon auf die Schussfahrt zurück ins Tal.

Die ist übrigens in steter Regelmäßigkeit nicht so heldenhaft. Auf den sehr steilen und ihnen unbekannten Abfahrten setzt sich bei Mechthild und Michael nicht das Radfahrer-Gen des bergab Bretterns, sondern das Eltern-Gen des schön vorsichtigen Fahrens durch. Schnell fahren tun sie zwar sehr gerne, aber aus dem Urlaub heil wieder anzukommen um mit den Kindern Urlaubserlebnisse auszutauschen ist auch ganz schön. Halt nicht so heldenhaft. „Hoffentlich kriegt das keiner meiner Rennradfreunde aus Rheinbach mit“, meint Mechthild als der Tacho nach der Abfahrt vom Col du Galibier schlappe 51,8 km/h Höchstgeschwindigkeit anzeigt. „Das ist ja langsamer als bei jeder kurzen Ausfahrt in die Eifel.“

Mit dem Col du Galibier sind alle großen Pässe um Saint-Jean-de-Maurienne bezwungen. Eine knappe Woche bleibt noch, bis die Kinder wieder zurückkommen, wieso also nicht noch auf einen anderen Campingplatz mit anderen schönen Pässen umziehen? Die Entscheidung fällt auf Briançon, eine malerischen Stadt im Département Hautes Alpes nahe der italienischen Grenze. Um 1700 wurde Briançon nach einem verheerenden Stadtbrand unter Ludwig XIV von Vauban als mächtige Festungsstadt wiederaufgebaut und 2008 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. „Ein bisschen Kultur im Urlaub ist mal was anderes“, denken sich Mechthild und Michael und schlendern gleich den ersten Nachmittag durch die engen Gassen der Altstadt. Aber irgendwie ist Kultur im Urlaub auch anstrengend, und so wenden sie sich schnell den eigentlichen Attraktionen Briançons zu, den Bergetappen der näheren Umgebung. Die sind nämlich nicht ohne: mit dem Col d’Izoard, dem Col de Granon und dem Anstieg nach Alpe d’Huez ist Briançon von drei Bergwertungen der höchsten Kategorie umgeben.

Die Tour zum Col d’Izoard kommt kommt zuerst und erweist sich als landschaftlich besonders schön. Entlang der Durance geht es zunächst vergleichsweise flach nach Guillestre, einem schnuckeligen mittelalterlichen Städtchen, von dem Mechthild und Michael die Schokoladencroissants der Bäckerei am Kirchplatz in bester Erinnerung behalten. Von Guillestre aus führt der Weg durch die Schlucht Combe de Queyras erst flach weiter und ab dem Ende der Schlucht steil bergauf, zunächst durch einen lichten Kiefernwald, dann durch die spektakuläre Casse Déserte, dem „menschenleeren Geröll“, einer wilden Mondlandschaft aus Geröllfeldern und Felsnadeln, bevor schließlich die Gedenksäule zu Ehren der Pioniertruppe, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Passstraße durch die Berge gebaut hat, die Passhöhe anzeigt.

Auf dem Weg zum Col de Granon, der vorletzten Tagestour, probieren es Mechthild und Michael mit einer ganz neuen Taktik: Nicht mehr volle Pulle loslegen und dann nicht mehr können und dringend Pause machen müssen, gerne unter dem Vorwand, dass die Aussicht gerade so schön ist, sondern mal die Kräfte einteilen und in einem Rutsch durchradeln. Und es klappt, nach anderthalb Stunden erreichen sie die Passhöhe, sind fix und foxi, aber glücklich und freuen sich auf die Abfahrt ins Tal.

Die letzte Tagestour des Urlaubs gehört dem Klassiker nach Alpe d’Huez. Alpe d’Huez ist besonders. Zum einen wegen der Massen an Rennradfahrern, die den Anstieg wagen, und zum anderen, weil der Anstieg unten in Le Bourg - d’Oisans mit einer Startlinie beginnt und oben in Alpe d’Huez mit einer Ziellinie endet. Da muss man seine Zeit messen, Ehrensache. Was als passable Zeit durchgeht, kann man im Internet nachlesen. Den Rekord hält Marco Pantani, der auf der 1997er Tour de France 37 Minuten und 35 Sekunden brauchte.

„Wie der das bloß gemacht hat?“ fragt sich Michael.

„Bestimmt ohne Pause“, meint Mechthild. „So wie wir das seit gestern auch können.“

So wird aus der letzten Radtour ein Bergzeitfahren über rund 1100 Höhenmeter und 21 Spitzkehren, das Mechthild in 1 Stunde, 19 Minuten und 21 Sekunden mit einer guten halben Minute Vorsprung vor Michael, der 1 h 19‘ 58“ braucht, für sich entscheidet.

„Puh, war das anstrengend“, schnauft Michael im Ziel, „aber jetzt sind wir die vier magischen Anstiege der Tour endlich abgehakt.“

„Halb so schlimm“, sagt Mechthild, „beim Giro d’Italia gibt’s weitere, Stilfser Joch und so, die sind auch nicht schlecht. Man müsste nur irgendwie die Kinder unterbringen.“

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